Zur Geschichte eines Kleindioramas
Man kann nicht alles haben. Der Gedanke schoss mir jedenfalls durch den Kopf, als mein Kollege mir seinen – zugegeben etwas ungewöhnlichen – Geburtstagswunsch nannte: „Ich wünsche mir von dir die Nürnberger Prozesse als Zinnfiguren-Diorama“, sagte Christoph bestimmt. Nun muss man wissen, dass er seinem Nachnamen Hecht alle Ehre macht und lieber mit der Angelrute auf Fischfang geht, als sich Zinnfiguren zuwendet, aber dennoch hin und wieder mit mir über mein Hobby plaudert. Auf das Dioramenthema kamen wir übrigens aufgrund unserer Lektüre der bitterbösen – und sehr lesenswerten – Satire „Er ist wieder da“ vom Timor Vermes. Die Nürnberger Prozesse als Zinnfiguren-Diorama – wie soll das aussehen? Jedenfalls nicht so, wie es sich mein Schreibtisch-Gegenüber vorstellte: Den Gerichtssaal mit Anklagebank und allem Drum und Dran. „Das wird nichts, da gibt’s ja gar nicht die passenden Figuren“, entgegnete ich ihm. Wohl wissend, dass es Göring – wenn überhaupt – allenfalls als pompös ausstaffierten Reichsmarschall in typischer Fantasieuniform gibt, vermutlich während des Hitler-Regimes graviert und folglich wohl nur unter der Hand zu bekommen. Speer, Hess, Keitel und die weiteren Nazischergen gibt es meines Wissens gar nicht in Zinn, schon gar nicht als Hauptangeklagte der Nürnberger Prozesse.
Gleichwohl war mein Ansporn geweckt, das Thema in irgendeiner Form mit 30-Millimeter-Typen umzusetzen. Zum einen, weil es nach meinem Kenntnisstand noch keine zinnfigürliche Umsetzung der Nürnberger Prozesse gibt. Und zum anderen, weil das von November 1945 bis April 1949 geführte Verfahren in doppelter Hinsicht geschichtsträchtig ist: Es waren die ersten nach strafrechtlichen Kriterien geführten Prozesse gegen Kriegsverbrecher und so die Vorläufer des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag. Und hier erfolgte die erste umfassende Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen, denn neben der Kriegsschuld ging es auch um den Holocaust. Diese Aufarbeitung bewog Göring übrigens zu seinem forschen Auftreten im Gerichtsaal, der ehemals zweithöchste Mann im NS-Staat hielt das Verfahren von Anfang an für Siegerjustiz mit ohnehin schon festgelegtem Ausgang. Dass Nürnberg Schauplatz der Prozesse war, hatte indes vor allem einen pragmatischen Grund: Der zwischen 1865 und 1901 in mehreren Bauabschnitten errichtete Gefängniskomplex hatte den Bombenkrieg nahezu unbeschadet überstanden. Der Umstand, dass seit der Machtergreifung 1933 Nürnberg Schauplatz aller Reichsparteitage der NSDAP war, spielte trotz der Symbolträchtigkeit nur eine untergeordnete Rolle.
So weit, so gut. Doch wie sollte ein Diorama zu den Nürnberger Prozessen ohne auch nur eine Type zu diesem Thema gestaltet werden? „Stell‘ doch einfach ein paar US-Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg auf Wache vor Gefängnistüren“, schlug mein Namensvetter und Sammlerfreund Henning Knecht vor. „Gute Idee!“, freute ich mich. Gesagt, getan. Gesagt, getan? Von wegen. So einfach war es dann nun auch wieder nicht. Denn zu meinem Leidwesen musste ich feststellen, dass es derartige Figuren nicht gibt. Vergebliches wälzen von Katalogen und Typenlisten. Vergebliches stöbern auf Börsen. US-Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg sind nicht gerade üppig gesät. Und wenn, dann sind es Fallschirmjäger im Sturm oder ähnliches. Jedenfalls keine GIs auf Wache.
Rettung nahte, als ich erfuhr, dass Dr. Eberhard Dau Typen der US-Armee im Halt anbieten soll. Nun, wer steht, kann auch auf Posten sein. Also her damit. „Nein, tut mir leid. Solche Typen habe ich nicht“, beantwortete Dau meine Anfrage. Mein geplantes Diorama verflüchtigte sich in meinem Kopf bereits ins Nirwana. Aber Dau fügte hinzu: „Horst Tylinski hatte früher US-Soldaten im Halt. Die Formen sind bei Reinhart Bunzel, glaube ich.“ Bunzel hatte die Formen aber nicht. „Die sind bestimmt irgendwo in Amerika. Aber ich habe noch Abgüsse. Ich schicke Ihnen gern welche zu.“ Puh, Glück gehabt – ein erquickliches Ende meiner Schaubild-Ambitionen kündigte sich an.
Der mir bekannten Quellenlage zufolge schoben keine US-Soldaten in Standardausrüstung auf den Gefängnisfluren Wache, sondern mit Knüppeln bewaffnete Militärpolizei. Diese Typen gibt es schon gar nicht. Nun gut, Helm und Gürtel mit weißer Farbe zu bemalen, soll am Ende nicht das Problem sein. Doch zunächst galt es, die stehenden GIs von ihrem Marschgepäck zu befreien. Außerdem wurde jeder einzelne abgerüstet: Aus Gewehren wurden Knüppel. Der Feile folgte schließlich der Pinsel.
Vom Gefängnisflur hatte ich mir bereits im weltweiten Netz ein Bild machen können, es gibt genügend Fotos und Dokumentationen. Um das Thema zu visualisieren, sollte jede Tür – dem Original entsprechend – eine Klappe bekommen. Durch diese Klappen sollten Hermann Göring, Albert Speer und Rudolf Hess herausschauen. Nach einigen Mühen hatte ich deren Köpfe schließlich maßstabsgerecht ausgedruckt. Und so begann die Bastelarbeit eines Kleindioramas mit ein paar Figuren im Bilderrahmen-Format. Ein Exemplar für meinen Kollegen, ein weiteres für mich. Ich habe versucht, die Szenerie so originalgetrau darzustellen, wie es mein handwerkliches Geschick eben zulässt. Die Rohre, die dunklen Türrahmen, die schweren Holztüren und die Zellennummerierungen sind auf den Fotos zu erkennen. Einiges ließe sich gleichwohl hinterfragen. Etwa, ob die US-Militärpolizisten im Nürnberger Zellengefängnis weiße Schulterriemen trugen oder nicht. Auf den historischen Abbildungen sind – zumindest im Gerichtssaal – beide Varianten zu sehen. Viel fragwürdiger erscheint indes, ob Göring, Speer und Hess in direkt angrenzenden Zellen inhaftiert waren.
Am Ende war das kleine Diorama ein großer Aufwand. Aber was soll’s, dieser Aufwand ist ja gerade einer der Reize unseres Hobbys. Wer sich das Diorama im Original ansehen möchte: Mein Exemplar wird in der Ausstellung „Zinn zeigt Geschichte(n)“ der Klio Schleswig-Holstein vom 28. Juni bis 30. August im Heimatmuseum in Brunsbüttel gezeigt.
Mein Kollege hat sich übrigens sehr über das kleine Schaubild gefreut. Nachdem er ausgepackt hatte, grinste er mich an und sagte: „Und als nächstes bastelst du die Verbrennung von Hitlers Leiche vor der Reichskanzlei!“ Oh nein, mein Lieber, man kann nicht alles haben. Der Gedanke schoss mir jedenfalls durch den Kopf.
Henning Voß